Ballroom von Shahar Binyamini

Nicht etwa der Ballsaal (engl. „ballroom“) gibt Shahar Binyaminis Stück seinen Namen, sondern die Bälle, die das Stücke dominieren. Getragen in den Händen der TänzerInnen werden sie zu choreografischen Subjekten, die Bewegungen übernehmen, Bewegungsmöglichkeiten einschränken, mit den TänzerInnen interagieren, Tanz schaffen. Die Bälle erinnern an die Bewegung der Planeten im Kosmos, die Gruppe der Bälle wird zum Sonnensystem.

Für Binyamini selbst begann alles mit einem Bewegungsexperiment, einem einfachen Spiel, und einer Beobachtung: Die Erweiterung des Körpers durch den Gymnastikball, der Tanz mit dem Ball in der Hand, verändert die Körperwahrnehmung, den Bewegungsspielraum und das Bewegungsvokabular. Das spiegelt sich in Binyaminis Stück wider: Die Bälle, die aus den Handflächen gewachsen scheinen, verändern die Körper der TänzerInnen maßgeblich. Dadurch entsteht eine Verlängerung ihrer Linien, eine Abstraktion der Bewegungen, aber auch ein Barriere, die verhindert, dass die TänzerInnen einander nahe kommen. Die Bälle bestimmen die Kommunikation in der Gruppe und werden bisweilen selbst zu Kommunikationspartnern, wenn sich der Blick der TänzerInnen mal stolz, mal hingebungsvoll sie richtet.

„Ballroom“ versetzt die ZuschauerInnen in Zukunft und archaische Vergangenheit zugleich. Durch Binyaminis Bewegungssprache in Zusammenspiel mit dem durch die Bälle bestimmten Tanzvokabular wirken die TänzerInnen in Binyamini’s Stück beinahe unmenschlich. Sie scheinen Kreaturen zwischen Mensch und Maschine, Cyborgs, zu sein. Eine Wirkung, die durch die düstere musikalische Techno-Collage von Daniel Grosmann unterstrichen wird. Die Szenerie wirkt „futuristisch“. Dem Futuristischen gegenüber stellt Binyamini das „Primitve“ und „Archaische“, indem er mit Elementen spielt, die an kollektive Rituale erinnern. Die präzisen, scharfen Schritte der Gruppe komponieren eine zweite Rhythmus-Ebene, die sich über den Beat legt und den Blick der ZuschauerInnen fesselt. Der Kreis ist als Grundform und Grundbestandteil kollektiver Rituale Binyaminis zentrales choreografisches Element. Durch ihre kollektiven Bewegungen scheinen sich die TänzerInnen in Trance zu bringen. An aktuelle gesellschaftliche Diskussionen erinnert die bewusst gesetzte Geschlechts- und Genderneutralität der TänzerInnen. Sie sind in Aussehen und Bewegungen weder männlich noch weiblich, sondern beides zugleich. Die TänzerInnen könnten einer  vergangen oder zukünftigen Welt entstammen, in der Geschlechts- und Genderzugehörigkeit keine Rolle gespielt haben bzw. spielen werden. Sie bleiben neue und doch alte geschlechtslose Kreaturen. Die zentrale Frage – was ist es, was die ZuschauerInnen hier sehen, Zukunftsvision, oder doch bereits vergangene Erzählung? – lässt Binyamini also bewusst unbeantwortet.

Der Fokus in Binyaminis Kreation liegt nicht auf dem Individuum, sondern auf der Gesamtheit der Gruppe. Die einzelnen TänzerInnen bilden mit ihren Bällen die Zellen eines größeren Organismus, der im Laufe des Stückes eine gesamtheitliche Entwicklung erfährt. Die TänzerInnen bewegen sich vor allem als Gruppe, sie umkreisen sich, teilen sich auf, um sich sofort und scheinbar magnetisch wieder zusammenzuziehen. Die tanzenden Körper erscheinen in einem Moment wie ein kompaktes monolithisches Wesen und verwandeln sich dann doch plötzlich in eine elastische Figur mit isolierten Details. Die Erfahrung jedes und jeder einzelnen bleibt dabei jedoch von Bedeutung und ist tragendes Element der Choreografie. Durch ihre individuelle Interpretation hauchen die TänzerInnen den präzise und detailgetreu choreographierten Bewegungen Leben ein, geben ihnen Bedeutung und machen sie zu authentischen Handlungen.

Nicht zuletzt knüpft Binyamini mit den „minimalistischen“ und „klaustrophobischen“ Bewegungen der TänzerInnen – wie Binyamini sie in der Selbsbeobachtung nennt – an den Zustand des menschlichen Körper im Hier und Jetzt an. Die Choreografie spiegelt eine Zeit, in der dem Menschen aufgrund gesellschaftlicher Normen, aber auch neuer Kommunikationsmedien nur noch ein enger und begrenzter Handlungsraum bleibt. Jeder oder jede hat einen beschränkten Platz, den er oder sie ausfüllt und aus dem er oder sie nicht ausbrechen kann. Menschen interagieren nur noch mit minimalistischen Gesten und ihr Bewegungsspielraum schrumpft. Gleichzeitig entstehen Spannungen – zwischenmenschliche Spannungen, Spannungen aufgrund der Restriktion der eigenen Bewegungen. Diese Spannungen führen zu Explosionen, die als Bewegungsexplosionen sichtbar werden. Die Explosionen vollziehen sich jedoch immer nur innerhalb einer sehr beschränkten Blase, einem sehr beschränkten Raum.

Zum Abschluss, bleibt noch ein ganz besonders persönliches Motiv von Binyamini zu erwähnen. Auch wenn Szenario, Bewegungen, Thematik des Stückes eher ernst und gewichtig, denn leicht und lustig erscheinen, bleibt Binyamini seinem grundsätzlichen kreativen Beweggrund und schöpferischen Motor auch in diesem Stück treu: Es geht ihm um die Freude, „joy“, in ihren unterschiedlichsten Formen. Es geht ihm darum, die Freude auszudrücken, die Verbindung zur Freude zu schaffen, und diese Freude(n) in der Choreografie mit dem Publikum zu teilen. Ballroom lässt die ZuschauerInnen teilhaben an der Freude, die Binyamini selbst ursprünglich beim „Ballspiel“ empfunden hat.

 

sa 18/05 Shahar Binyamini . Ohad Naharin


Text: Lina Aschenbrenner
Fotos: Andreas Waldschütz | Photography

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