Das Schattendasein einer Symphonie
Ludwig van Beethoven schrieb seine vierte Symphonie zwischen zwei weiteren Werken der gleichen Gattung – Nr.3 «Eroica» und Nr. 5 – die im Konzertleben unserer Zeit wesentlich größeres Ansehen genießen als diese in B-Dur. Sofern es eine Symphonie aus der Feder Beethovens gibt, die ein Schattendasein führt, ist es diese vierte. Dabei war das zu Lebzeiten des Komponisten ganz anders: bei der öffentlichen Uraufführung am 15. November 1807 in Wien – die private Uraufführung hatte bereits im März 1807 in der Wohnung des Fürsten Lobkowitz stattgefunden – wurde das Werk mit beinahe ungeteilter Begeisterung aufgenommen und im Gegensatz zur Vorgängersymphonie («Eroica»), die in ihrer thematischen Überfülle auf viele verstörend gewirkt hatte, sehr positiv bewertet. Auch Vertreter späterer Komponistengenerationen hatten einen besonderen Bezug zur vierten Symphonie. Robert Schumann typisierte sie als eine «griechisch schlanke Maid» zwischen den herausfordernden Gebirgen der «Eroica» und der Symphonie Nr. 5 und insgesamt als die «klassischste» aller Beethoven-Symphonien.
Erster Satz
Romantische Züge zeigt zweifellos der erste Satz (Adagio – Allegro vivace) mit seiner langsamen Einleitung, die nicht nur zaghafte Andeutungen macht wie sie Beethoven noch in der ersten Symphonie gewagt hatte, sondern aus dem Vollen schöpft. Der Grundton B wird zwar vorgestellt, doch unmittelbar darauf durch fehlende harmonische Unterstützung in Frage gestellt. Dass Beethoven seine musikalischen Behauptungen gern schon im folgenden Takt in Frage stellte, war ein Stilmittel, das er schon zuvor eingesetzt hatte. Doch nie tat er es so profund und experimentierfreudig wie am Beginn dieser Symphonie. Zielloses Umherirren durch Tonarten, die in keinerlei Bezug zur Grundtonart stehen, und das in einer Einleitung zu einer Symphonie – diese auskomponierte Unwägbarkeit gibt Einblick in den Entwikklungsstand, auf dem sich Beethoven zu dieser Zeit bereits befand. Das Orchester tastet nach einem Weg, der Halt gibt und führt uns schlussendlich nach F-Dur, der direkt verwandten Dominanttonart zu B-Dur. Begeistert wird diese neue musikalische Heimat begrüßt und erkundet – in diesem Sinne kann auch das harmonisch einfache und rhythmisch neutrale Thema verstanden werden: eine freudige Bejahung der errungenen Bodenständigkeit in der heimatlichen Tonart. Dass diese Einfachheit der Behandlung in den späteren Sätzen zugute kommt, lässt sich erahnen, wenn man Beethovens Vorliebe für lustvolles Spielen mit Tonmaterial kennt.
Der zweite Satz (Adagio) wird von zwei Elementen dominiert: einerseits ein tiefes und punktiertes Quartenthema, das unmittelbar zu Beginn vorgestellt wird und eine über allem schwebende Kantilene, die scheinbar endlose Kreise zieht. Von Anfang an geben sich die beiden Elemente Raum, lassen einander den Vortritt und teilen sich die Bühne sozusagen gerecht auf. Ein Grundprinzip von Beethovens Stil – die Gleichzeitigkeit musikalischer Geschehnisse darzustellen – wird hier deutlich hörbar: das pochende Quartenthema wird in Achteln empfunden, die Kantilene erklingt dagegen in den halb so schnell zu zählenden Vierteln. Die beiden «Charaktere» sind also nicht nur durch Tonhöhe und Dynamik von einander getrennt – auch die Zeit, in der wir die Protagonisten des Adagio wahrnehmen, ist eine jeweils andere. Eine Vereinigung der beiden Elemente findet nie wirklich statt, rhythmisches Grundmotiv und sanglicher Höhenflug bleiben stets in ihren Gebieten. Dabei harmonieren sie doch so trefflich miteinander, indem sie einander passgenau Raum lassen und ihre Unterschiedlichkeit niemals als Konflikt zeigen, sondern als reizvollen Kommentar zueinander ausspielen.
Der dritte Satz (Allegro vivace) zeigt in seiner eigenwilligen und markigen Rhythmik bereits ganz deutlich die Züge späterer Scherzo-Sätze Beethovens. Die ersten Figuren übertölpeln den Hörer geradezu und stellen auch die Geübtesten vor ein Rätsel, wo im Takt man sich gerade befindet. Thematisch knüpft der Satz wieder an das frische und unbefangene Hauptmotiv des ersten Satzes an. Beethoven nützt hier geschickt die Einsetzbarkeit seines neutral gehaltenen Urgedankens um in rhythmischen Wechselspielen zwischen den Instrumentengruppen und Fortissimo-Kontraktionen im unisono alle Register seiner Kunst zu ziehen. Dass die Vierte in keiner Weise aus der Reihe der neun Symphonien herausfällt, wird deutlich hörbar, wenn das Orchester stellenweise kühn davonprescht und so Stimmungsbilder aus beispielsweise der «Pastorale» und der siebten Symphonie vorwegnimmt. Auch in diesem Satz präsentiert der Komponist wie schon zuvor eine Dichotomie: der Scherzo-Satz, wenn hier auch durch die Bezeichnung «Allegro vivace» etwas weniger verbindlich charaktierisiert, steht in einem Dreiertakt. Die Melodik ist jedoch ganz klar aus der geradtaktigen Welt des ersten Satzes entnommen und lässt hier reizvolle Lücken entstehen, die das musikalische Geschehen immer wieder zum Stocken bringen. Umso beeindruckender wirken die Ausbrüche zügelloser Geschwindigkeit und lebensbejahenden Glücks, mit denen Beethoven seiner Stimmung Ausdruck verleiht.
Der Schlusssatz der Symphonie (Allegro ma non troppo) leitet mit unauffälligen, flinken Streicherbewegungen ein, die schnellstmöglich zu kräftigen Akzenten führen, von denen sich die eiligen Bewegungen energetisch aufgeladen wieder abstoßen. Die melodische Keimzelle des Finales bildet eine kleine kreisende Streicherbewegung, kaum mehr als eine Floskel, die – gleich einem Perpetuum mobile – das Geschehen antreibt und einzelne Orchesterinstrumente zu spielerischen Kommentaren, Imitationen und sogar melodischen Eigenwilligkeiten verleitet. Dabei ergeben sich klanglich reizvolle Kontraste, wenn beispielsweise das Fagott die Drehbewegung übernimmt und kurz darauf die Flöte einen melodischen Versuch wagt. Bestimmend bleibt dabei jedoch immer das hohe Tempo, die Drehfreudigkeit der kleinen thematischen Spindel, die den musikalischen Faden immer fort zu spinnen scheint. Beethoven hebt hier die Nebeneinanderstellung der früheren Gegensatzpaare auf: das Finale kommt aus einem Guss und lässt keinen Raum mehr für verschiedene Zugänge. Eine breite Bahn, auf der flinke Figuren unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit paradieren, ist Schauplatz dieses leichtfüßigen Finales zu einer Symphonie, die ihren beiden umgebenden und berühmteren «Schwestern» in nichts nachsteht und in vielfacher Weise zeigt, dass es an Beethovens Musik vieles zu entdecken gibt.
© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore