Enter Achilles ist 1995 entstanden. Die BBC hat daraus einen Film gemacht, der mit zahlreichen Preisen, wie dem International Emmy Award und dem Prix Italia, ausgezeichnet wurde. Es steht nach wie vor auf den Lehrplänen für Schulen und Hochschulen in ganz Großbritannien. Woran glauben Sie liegt es, dass das Werk sowohl beim britischen Publikum als auch im Ausland derart großen Anklang fand?
Mitte der 1980er-Jahre gründete ich meine eigene Compagnie (DV8 Physical Theatre) aus einer Frustration heraus. Die Vagheit und die Abstraktheit, die ich fast im gesamten britischen Tanz wahrnahm, frustrierten mich sowohl als Tänzer als auch als Teil des Publikums. Und damit war ich nicht alleine ... viele Menschen nahmen Enter Achilles als willkommene Entlastung von anderen zeitgenössischen Tanzstilen wahr, die sie sahen. Es hatte einen Handlungsstrang und Charaktere, die die Menschen wiedererkannten. Das Publikum verstand, was die Performer auf der Bühne machten und warum sie sich so bewegten, wie sie es taten.
Wenn Menschen verstehen, worum es in einer Arbeit geht, ist es generell einfacher, sich damit zu beschäftigen – und das beinhaltet auch, sie zu kritisieren. Das erklärt wohl auch, warum manche zeitgenössischen ChoreografInnen es bevorzugen, abstrakte Stücke zu schaffen; es sind des Kaisers neue Kleider. Die ZuseherInnen bleiben mit dem Gedanken zurück, „ich bin einfach nicht klug genug, das zu verstehen“; selbst, wenn es bedauerlicherweise oft wenig zu verstehen gibt. Als ich Enter Achilles Mitte der 1990er kreierte, war Tanz mit Bedeutung – Tanz, der Dramatik und Humor einbindet - sehr selten. Und so verhält es sich oft auch heute noch - oder wann haben Sie zuletzt in einem zeitgenössischen Tanzstück gelacht?
Warum haben Sie sich dazu entschieden, Enter Achilles gemeinsam mit Rambert wieder auf die Bühne zu bringen?
Nach 30 Jahren war ich es leid, eine Compagnie zu leiten und ein Team zu führen. Auch vom ständigen Druck und den Ängsten, neue Werke zu kreieren, hatte ich genug. Also habe ich DV8 Ende 2015 auf Eis gelegt ... und es ist mir wunderbar bekommen. Ich habe die Freude an einem Leben außerhalb des Tanzes entdeckt. Dann erzählte mir Helen Shute (Geschäftsführerin und leitende Produzentin von Rambert) von ihren Plänen für Rambert, wegweisende britische Arbeiten, die für das Publikum live nicht mehr erlebbar waren, zu präsentieren und fragte mich, ob ich einwilligen würde, Enter Achilles ein weiteres Mal zu inszenieren.
Was mich bisher daran hinderte, Neubearbeitungen gemeinsam mit anderen Compagnien auf die Bühne zu bringen, war die Erwartungshaltung, dass ich mit TänzerInnen eines bereits bestehenden Ensembles arbeiten sollte. Das war einfach zu einengend, da ich die TänzerInnen grundsätzlich je nach Bedarf für ein Projekt auswähle. Ich benötige TänzerInnen, die schauspielen können, was eine Herausforderung ist; darüber hinaus brauche ich beispielsweise auch Performer, die singen, Luftakrobatik machen oder vielleicht sogar gut Fußball spielen können. Früher habe ich, je nach Thema meiner Arbeiten, aktiv danach gestrebt, PerformerInnen mit körperlichen Beeinträchtigungen, ältere TänzerInnen (60+) und ethnisch diverse KünstlerInnen zu engagieren.
Während viele Compagnien TänzerInnen haben, die über großartige technische Kompetenzen verfügen und perfekte Pirouetten ausführen können, haben sie oft Schwierigkeiten, Prinzipien der Körpersprache zu verstehen, da ihre Arbeitsweise das Wissen außerhalb dieser Prinzipien trainiert. Viele der TänzerInnen, die bei mir vorgetanzt haben, konnten trotz ihrer unglaublichen Technik einfach nicht Bewegung mit Bedeutung verknüpfen. Rambert ist die einzige Repertoire-Compagnie, die mir die Möglichkeit gab, weltweite Auditions abzuhalten, um die richtigen TänzerInnen für meine Arbeit zu finden. Die Aussicht, mich voll und ganz auf die Kunst fokussieren zu können und das ganz ohne den Druck, eine Compagnie leiten zu müssen, war sehr verlockend. Dies in Kombination mit Helens Versprechen, ausreichend Unterstützung und Zeit im Probenraum zur Verfügung zu stellen, führte dazu, dass ich ihr Angebot nicht ablehnen konnte.
Wird die Rambert-Version von Enter Achilles dem Original von 1995 gleichen?
Über drei Jahre tourte DV8 mit Enter Achilles und während dieser Zeit überarbeitete ich es ständig. Es gab außerdem Änderungen in der Besetzung und das hieß für mich, die Choreografie so zu bearbeiten, dass sich die Fähigkeiten und Persönlichkeiten der neuen Tänzer gut einfügten. Die finale Version von 1998 unterschied sich also bereits sehr von der Premiere 1995. Infolgedessen werde ich natürlich auch jetzt Änderungen durchführen, die die neue Besetzung und ein Großbritannien 25 Jahre später reflektieren. Dennoch ist es mir ein Anliegen, die zentralen Bestandteile und die Struktur der Originalversion aufrechtzuerhalten, denn genau diese verleihen der Arbeit ihre Kraft.
Für all jene, die Enter Achilles damals nicht gesehen haben – was erwartet sie?
Enter Achilles feiert den Humor, den Spaß und die Kameradschaft, die viele Männer – im Speziellen Männer der Arbeiterklasse – genießen und zeigt, wie Alkohol eine bedeutende Rolle in ihrer Verbundenheit einnimmt und zugleich als Katalysator für Gewalt dient. Also habe ich das Stück in einem Pub situiert, das von Ian MacNeil kreiert wurde, der ebenso für das Bühnenbild von Billy Elliot verantwortlich zeichnete.
Das Stück erforscht, was eine Gruppe von Männern eint und was sie trennt; wovon sie meinen, es mit anderen teilen zu können und wovon nicht. Es wirft einen Blick auf die Verletzlichkeit, die Herdenmentalität und darauf wie Männer, ebendiese Männer, die Schwächen und Abweichungen eines anderen von der als gemeinhin traditionell verstandenen maskulinen Norm überwachen.
Während Enter Achilles auf uneingeschränkt positive Resonanz stieß, gab es eine Stimme, die Ihr Portrait des Mannes im Stück als „zu schlimm, um wahr zu sein“ beschrieb.
Interessanterweise war die Person, die dies verlautbaren ließ, eine Frau. Enter Achilles stützte sich auf meine unmittelbaren Beobachtungen von und Erfahrungen mit Männern – als Mann. Es gab damals mehrere bedeutsame Vorfälle, die sich in Großbritannien ereigneten, während ich die Produktion kreierte und damit tourte. Gewalt im Fußball war vorherrschend, 1995 etwa gab es ein Spiel zwischen England und Irland, wo englische Fans während des Spiels randalierten. Dutzende Menschen wurden schwer verletzt und Teile des Stadions komplett ruiniert. Im darauffolgenden Jahr, als wir mit Enter Achilles auf Tournee waren, verlor England bei der Euro 1996 im Halbfinale gegen Deutschland. Deutsche Autos wurden umgestoßen und gingen rund um den Trafalgar Square in Flammen auf. In einem Dutzend anderer Orte im ganzen Land explodierte die Gewalt. Unter anderem stachen britische Schläger wiederholt auf einen russischen Studenten ein, nachdem sie ihn gefragt hatten, ob er und seine drei Freunde Deutsche seien.
Nichts davon, was bei Enter Achilles auf der Bühne passiert, kommt nur annähernd an das „Schlimme“ dieser Taten heran. Enter Achilles hat nicht die Absicht, ein generelles Urteil über Männer zu fällen. Das Stück handelt von einer Gruppe bestimmter Männer, in einem Pub, in einer bestimmten Nacht und davon, was passiert, wenn ein Außenseiter ihre Welt betritt. Dennoch sind die Szenarien, die sich in weiterer Folge entfalten, eine Widerspiegelung von Verhaltensmustern, die "traditionell" eher als männlich denn als weiblich gelten; egal ob sie angeboren oder erworben sind.
Eine Anekdote ... Als ich 1995 wegen einer Infektion nach meiner Achillessehnenoperation in der Notaufnahme war, kamen zwei Männer ins Zimmer und erzählten mir, sie seien beste Freunde. Einer von ihnen hatte den anderen mit einem Glas schwer verletzt, als ein Streit zwischen ihnen im Suff eskalierte. Im Vergleich dazu ist Enter Achilles friedlich.
Glauben Sie, die Vorstellungen davon, was es bedeutet, ein Mann zu sein, haben sich seit der Ersterscheinung von Enter Achilles wesentlich verändert?
Nehmen wir erneut den Fußball, nur weil auch im Stück manchmal darauf Bezug genommen wird. Als ich DV8 gründete, waren englische Teams wegen Hooliganismus für fünf Jahre vom europäischen Fußball gesperrt – man sprach dabei von der „English Disease“. 39 Menschen starben bei der Katastrophe von Heysel (Anm.: einer Massenpanik, die ausbrach, als Liverpool-Fans beim Endspiel des Europapokals 1985 den neutralen Sektor stürmten); 14 Liverpool-Fans wurden später wegen Totschlags verurteilt. Es ist gerecht zu sagen, dass die Mehrheit der Fußball-Hooligans während dieser Zeit Männer, keine Frauen, vorwiegend aus dem Arbeitermilieu waren. Im Vergleich dazu zeigen die heutigen Spiele außerhalb Großbritanniens, dass sich manche Dinge verändert haben – obwohl die Tatsache, dass die Polizei Reisepässe kontrolliert und während der Spiele ein Alkoholverbot auf den Tribünen gilt, beträchtlich zur Gewaltreduktion beigetragen hat.
Dennoch, der Druck, der auf Männern lastet, den maskulinen Stereotypen zu entsprechen, ist nicht verschwunden, trotz der Wünsche vieler aus der linksliberalen Mittelschicht. Nach wie vor ist er tief verwurzelt in der Sozialisierung der meisten Männer. Verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt viele bewundernswerte Eigenschaften, die an traditionelle Männlichkeit anknüpfen, und Enter Achilles ist keine pauschale Verurteilung der Maskulinität, weit gefehlt. Aber es ist beunruhigend, dass heute 78 % der Täter von Gewaltverbrechen im Vereinigten Königreich Männer sind, 74 % der Mordopfer sind männlich und bei Männern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Suizid begehen, dreimal höher als bei Frauen.
Interessanterweise brachte der American Psychological Association (APA) ihre Aussage darüber, dass traditionelle maskuline Ideologie die männliche psychologische Entwicklung einschränkt, letztes Jahr ziemlich viel Kritik ein. Während APA auf schnellstem Wege versuchte, klarzumachen, dass sie sich nicht auf jede einzelne Eigenschaft bezieht, die wir mit Männlichkeit assoziieren, gab sie an, dass genügend empirische Nachweise zur Verfügung standen, die zeigten, dass maskuline Ideale für eine emotionale Stabilität des Mannes oft kontraproduktiv sind, dass sich das Anstreben jener Stereotypen negativ auf die mentale Gesundheit von Männern auswirken kann und in weiterer Folge in Gewalt gegen andere oder sich selbst – Suizid, exzessivem Alkoholkonsum, rücksichtslosem Verhalten – resultiert.
Stündlich erreichen die britische Polizei 100 Anrufe wegen häuslicher Gewalt; hier sind die Täter, einmal mehr, vorwiegend männlich. Wenn England in einem WM-Spiel verliert, erhöht sich diese Zahl um 38 %. Das ist keine gute Werbung für den modernen Mann.
Eine der Fragen, die wir uns 1995 bei der Kreation von Enter Achilles stellten, war folgende: Wir stimmen zu, dass Frauen in der Geschichte immer schon von Männern unterdrückt wurden, aber wie gewaltsam gingen Männer mit sich selbst um?
Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen, ja, man hat es geschafft, einige der negativen Aspekte von Männlichkeit abzumindern: die Gewalt, den Sexismus, die Homophobie. Aber die Statistik belegt, dass diese Probleme gar nicht verschwunden sind.
Ich denke, angesichts all dessen und des Aufkommens von #MeToo und dem Brexit ist es der richtige Zeitpunkt, um dieses Stück wieder aufzugreifen.
fr 14/02 Ballett Rambert & Sadler's Wells | Lloyd Newson: Enter Achilles
Das Interview wurde von Sadler’s Wells zur Verfügung gestellt. Aus dem Englischen von Julia Dorninger.
Fotos: Enter Achilles © Hugo Glendinning, Lloyd Newson © Fiona Cullen, Enter Achilles © Hugo Glendinning