Ein Algorithmus, der Datensätze des Klimawandels in choreografische Handlungen übersetzt. Eine Kreation, die von Aufführung zu Aufführung, einmalig und nicht wiederholbar, grafische Darstellungen von Polarmeeren tänzerisch zum Ausdruck bringt: Mit Hilfe eines Zufallsgenerators verschafft das neue Stück von Richard Siegal dem schwindenden Packeis des Nordens auf künstlerisch eindrucksvolle Weise Aufmerksamkeit.
Aber der Reihe nach. Siegal, der bereits als Artist in Residence am Festspielhaus wirkte, brachte mit „New Ocean“ am 27. September eine außergewöhnliche Arbeit zur Uraufführung am Schauspiel Köln. Das Stück ist inspiriert von der choreografischen Arbeit des legendären Merce Cunningham, der 2019 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Siegal greift bestimmte Arbeitsprinzipien Cunninghams auf und verbindet sie mit der Formensprache seiner Compagnie, dem Ballet of Difference. Der wohl augenscheinlichste Querverweis ist der LED-Ring in der Bühnenmitte als Referenz auf Cunninghams Idee eines Tanzes im Kreis.
Anlässlich der Premiere in Köln, trafen wir den amerikanischen Choreografen und sprachen mit ihm über seine neue Kreation, die auf bestimmten ökologischen Entwicklungen der Gegenwart basiert. Zentrales Element im Hintergrund der Produktion ist ein Zufallsgenerator, der auf Basis von Daten des schmelzenden Polareises entwickelt wurde. Daten, die über einen Zeitraum von 40 Jahren mittels Satellitentechnologie erhoben wurden, werden neu interpretiert und mit speziellen Parametern an die Erfordernisse der Choreografie angepasst: „Das System wählt also aus einem Katalog von Variationen und Themen aus, die zusammen das Material bilden, das die TänzerInnen auf der Bühne performen.“
„Es gibt 94 Sequenzen“, führt Siegal aus. Die TänzerInnen stellen eine bestimmte Menge von schmelzenden Eis in der Polarregion dar und folgen dabei zwei Mustern: dem Wechselspiel von Sommer und Winter sowie der langfristigen Entwicklung. Siegal gibt dabei zu bedenken, dass „New Ocean“ in absehbarer Zeit nicht mehr performt werden kann: „[…] die Choreografie [hängt] derart von den Daten des Eises ab, dass dieser Tanz in einer möglichen, wahrscheinlichen Zukunft, wenn es kein polares Eis mehr geben wird, unmöglich aufgeführt werden kann. Dieser Tanz wird verschwinden. Ich möchte wirklich, dass die Leute das verstehen, wenn sie sich den Tanz ansehen.“
In der Performance am Freitag, 06. Dezember im Festspielhaus St. Pölten spuckt der Zufallsgenerator in Bewegung gegossene Eisdaten der Karasee, einem Randmeer des Arktischen Ozeans nördlich von Russland, aus. Ein Tanzabend, der dem Publikum in all seiner Schönheit die Urgenz des Klimawandels vor Augen führt. Ein Friday for Future, der lange nachhallt.
06/12 Richard Siegal/Ballet of Difference am Schauspiel Köln: New Ocean
Text & Fotos: Andreas Prieling