Geschaffen von Menschenhand
Komponist Yair Elazar Glotman im Gespräch mit Julia Dorninger
Erzählen Sie uns zu Beginn ein wenig über Ihre erste Begegnung mit Jóhann Jóhannsson. Last and First Men war ja nicht das erste Projekt, für das Sie beide zusammenarbeiteten, richtig?
Genau. Jóhann kam auf mich zu, als er gerade an einer Überarbeitung arbeitete. Ich bin ja auch Kontrabassist und kam zu ihm, um Aufnahmen für diese Überarbeitung einzuspielen. Während der Session fingen wir an, über Musik zu reden und eine Art freundschaftliches Gespräch zu führen. Nach Beendigung der Aufnahmen blieben wir noch für weitere fünf Stunden und tauschten uns über Musik aus. In dieser Zeit fragte er mich, ob ich mit ihm an Last and First Men arbeiten wolle, das damals gerade in Manchester uraufgeführt wurde. Es war ein audiovisuelles Stück, das er in einen Spielfilm verwandeln wollte. Das war der Start unserer Zusammenarbeit.
Sie selbst sind klassisch ausgebildet, Sie spielen Kontrabass. Gleichsam verfügen Sie über eine Ausbildung im Bereich der elektroakustischen Komposition. Ich nehme also an, Jóhann Jóhannsson wusste genau, warum er sich mit seinem Anliegen an Sie wandte?
Ja, ich denke, wir haben eine Menge ähnlicher Empfindungen. Und, wie ich schon sagte, war dieses erste Gespräch ein wirklich wichtiger Ausgangspunkt für unsere Zusammenarbeit. Jóhann war wie ein Musical, wie eine Enzyklopädie. Er interessierte sich für alles, von Stock House (Anm. d. Red.: Musiklabel in Stockholm) bis hin zum Pop der 80er-Jahre. Alles war für ihn relevant. In diesem Sinne dachte er keineswegs in Kategorien.
Was können Sie uns über Ihre Arbeit am Soundtrack zu Last and First Men gemeinsam mit Jóhann Jóhannsson erzählen? Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit und welcher Struktur folgte sie?
Als wir anfingen, zusammenzuarbeiten, wollte er das orchestrale Gefühl, das das Stück vermittelte, zugunsten des Films ein wenig herunterschrauben. Genau hier setzten wir unsere Zusammenarbeit an. Die Idee war, die Materialität und die Zerbrechlichkeit der Musik hervorzukehren. Ich habe viel mit Tonband-Manipulation und analogen Verfahren gearbeitet, was meiner Meinung nach für die Musik sehr schmeichelhaft war. Das war das fehlende Stück, denn die Bildaufnahmen, die wir gedreht hatten, übermitteln offensichtlich ein sehr haptisches Gefühl. Ebenso transportieren die Denkmäler in gewisser Weise die Vorstellung, dass hier etwas von Menschenhand erschaffen worden ist. So galt es, auch der Musik etwas mehr Struktur und Umfang zu verleihen. Das war die ursprüngliche Aufgabe, der Hauptteil, unser Anfangspunkt. Gemeinsam haben wir lediglich an, sagen wir, fünf Stücken zusammengearbeitet. Nachdem Jóhann von uns gegangen war, machte ich mich im Grunde daran, das zu produzieren, was wir zusammen geschrieben hatten. Aber ich musste auch eine ganze Menge fehlendes Material produzieren.
Last and First Men ist ein poetisches Filmprojekt, das sich mit den Themen Erinnerung und Verlust sowie der Idee einer Utopie beschäftigt. Das sind ziemlich hohe Anforderungen, oder? Aber haben Sie es überdies auch als eine besondere Herausforderung wahrgenommen, eine Filmmusik auf Bilder von real existierenden Kriegsdenkmälern zu schreiben? Bilder, die es auf der Welt wirklich gibt und die sich vor unseren eigenen Augen abspielen …
Ich persönlich habe das Gefühl, dass der Film in gewisser Weise sehr reich an Andeutungen, Widersprüchen und Assoziationen ist. Er ist sehr offen. Das Gute daran ist, dass natürlich jede:r eine andere Interpretation hat, aber selbst die eigene Interpretation kann sich im Laufe der Zeit ändern. Ich habe diesen Film wahrscheinlich hunderte Male gesehen und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, sehe ich etwas anderes, fühle ich etwas anderes und denke ich etwas anderes. Er entwickelt sich also ständig weiter. Ich denke, der Hauptaspekt, der für mich überaus wichtig ist, ist das Zeitgefühl, das ist immer noch ein bisschen so wie ... Ich meine, man kann nicht genau sagen, wann der Film gedreht wurde oder wann er spielt. Der Film könnte vor 50 Jahren gedreht worden sein, aber genauso gut könnte auch in 50 Jahren noch gedreht werden. Der zentrale Aspekt, der mich berührt, ist das Gefühl des menschlichen Eingreifens bei gleichzeitiger Abwesenheit eines menschlichen Abbildes im Film. Und, wie ich bereits erwähnt habe, dreht sich die Geschichte um diese Gesellschaft, diese zukünftige Gesellschaft, sowie über die Denkmäler, die sich, auch wenn sie in diesem Film ein wenig von ihrer ursprünglichen Bedeutung abweichen, eindeutig wie von Menschenhand geschaffen anfühlen. Und deshalb war es auch in der Musik wichtig, die menschliche Stimme als etwas einzubinden, mit dem sich jede:r identifizieren kann, aber gleichzeitig einen Weg zu finden, die Gefühle ein wenig zu abstrahieren.
Last and First Men spielt sich auf so vielen Ebenen ab, die in der Version mit Live-Orchester in St. Pölten zusammengefügt werden. Da sind die Bilder der sogenannten „Spomeniks“, die Sie bereits erwähnt haben, die Science-Fiction-Vorlage von Olaf Stapledon, die Stimme von Tilda Swinton, der Klang des Live-Orchesters, die singenden Solistinnen, das Harmonium. Was meinen Sie – war es in Jóhann Jóhannssons Sinne, all diese Elemente für diesen Abend zu einer Einheit zusammenzuführen? Oder sollte jedes Element seinen eigenen Platz haben und dabei auch als eigenständige Kunstform wahrgenommen werden?
Ich meine, in gewisser Weise ist es schon eine einzige Erzählung, aber sie hat viele verschiedene Stränge. Es ist so reichhaltig. Das Wichtigste ist, dass es keine Hierarchie zwischen den Strängen gibt, weder bei der Geschichte noch bei den Bildern oder dem Orchester oder dem Sounddesign. Jeder Strang unterstützt in gewisser Weise den anderen, kann aber auch für sich allein existieren. Die Art und Weise, wie Menschen den Film wahrnehmen, könnte also wirklich die Spannung verlagern und zwischen den verschiedenen Strängen hin- und herpendeln. Ich denke also, dass es nicht die eine Art gibt, den Film zu erleben. Und wie ich schon sagte, ändert sich die Erfahrung mit der Zeit und der Perspektive. In diesem Sinne ist es ein sehr einzigartiges künstlerisches Unterfangen.
Viktor Orri Árnason wird das Tonkünstler-Orchester, unser Residenzorchester, im Festspielhaus St. Pölten dirigieren. Was erwartet unser Publikum dabei?
Viktor Orri Árnason war auch ein enger Mitarbeiter von Jóhann und Teil der ganzen Komponistengemeinschaft, mit der wir in Berlin zusammen waren. Er ist ein großartiger Geigen- und Bratschenspieler. Diese Instrumente waren sehr wichtig für den Klang der Filmmusik. Er spielt auch selbst in der Aufnahme des Soundtracks. Seine Herangehensweise an das Spielen und Dirigieren ist einzigartig und war in gewisser Weise wirklich wichtig für diesen speziellen Soundtrack.
Interview, Kürzung, Transkription und Übersetzung aus dem Englischen von Julia Dorninger. Jänner 2023
JÓHANN JÓHANNSON . TONKÜNSTLER-ORCHESTER:
Last and First Men
sa 18/02