José Montalvo im Interview

Der Choreograf spricht über seine Sicht auf Carmen, künstlerische Hybriden und Kindheitserinnerungen.

Warum Carmen?
Ich mag den mythischen Charakter der Carmen, weil sie den singenden und tanzenden Spirit der Revolution verkörpert. Carmen ist eine enorm wichtige Rebellin, eine entschiedene Gegnerin der sozialen und moralischen Ordnung des späten 19. Jahrhunderts.
Für mich reiht sich Carmen in eine lange Linie von rebellischen und extravaganten Frauen im späten 19. Jahrhundert, weibliche Heldinnen, die die Selbstbestimmung und Freiheit der Frauen verfochten wie unter anderem Louise Michel, Isadora Duncan, Loïe Fuller, Camille Claudel.
„Ich will frei sein und tun, was immer ich will.“, sagt sie. Carmen hat mich schon immer begeistert und meine Vorstellungskraft befeuert: wagemutig, lebhaft, frei in ihrer Meinung und in ihrem Aussehen, in voller Kontrolle über ihre Entscheidungen, leidenschaftlich und sinnlich.

Es scheint, als würden sie Carmen als Vorkämpferin der Emanzipation der Frauen präsentieren. Ist das so?
Ja, auf eine gewisse Art. Ich mag Bizet´s Heldin, wegen ihrem Beitrag zur weiblichen Selbstbestimmung, aber auch, wie Hélène Seydoux wahrheitsgemäß in Les femmes et L´Opéra schreibt, weil Männer  - und ich bin einer – sich mit ihr als Mythos der Freiheit identifizieren können.

Wieso schreiben sie Carmen mit einem s?
Weil ich denke, dass in allen meinen Darstellern eine Carmen steckt und dass abseits der Bühne in jeder Frau eine Carmencita lebt oder spricht. An diesem Punkt sehe ich Carmen nacheinander von verschiedenen Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie dargestellt, die abwechselnd dem Erzählbogen von Bizets Oper folgen. Auf diese Weise werden sie Carmen verschiedene Körper leihen.

Wo liegen die Schwerpunkte, die das Stück strukturieren?
Carmen erlaubt mir, mein Denken über ästhetische Hybriden, die im Zentrum meiner choreografischen Sprache stehen, zu verjüngen, zu vertiefen und weiterzuentwickeln.
Durch ihre Wurzeln gehört Carmen zu einer Gemeinschaft, die von der Geschichte eines Exodus - eines wandernden Volkes, wie Jean Lacouture in Carmen la révoltée schreibt - geprägt ist. Diese Menschen stammen vermutlich aus Westindien (dem heutigen Pakistan), wie viele Experten behaupten, die Analogien zwischen ihrer Sprache und Sanskrit aus Zentralasien finden. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurde es auch als das "Volk Ägyptens" (daher das englische Wort Zigeuner) oder "Boheme" bezeichnet, da es zuerst von einem König von Böhmen begrüßt wurde.
Ich mag die Idee, dass diese auf der ganzen Welt gefeierte Frau kein Land oder Wurzeln hat. Es ist ein Wesen, das kulturelle und geografische Grenzen überschreitet. Carmens Land ist «oben am Berg» in einer grenzenlosen Welt, einer freien Welt.
Ich mag die Idee dieses mythischen Charakters, der in den Gedanken Mallarmés in Frankreich geboren und dann von Bizet transformiert und neugestaltet wurde und seitdem von den Menschen in Sevilla als eine von ihnen angenommen wurde. Das Rathaus von Sevilla eröffnete 1974 eine Bronzestatue.
Mir gefällt auch die Tatsache, dass Bizet nie nach Spanien gegangen ist.

Wo hat er sein Spanien gefunden?
Sehr einfach in Paris.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Spanien in Paris sehr präsent. Paris beherbergt eine Diaspora von Dichtern, Musikern, Komponisten, Performern und Freiheitsaktivisten. Es ist ein Spanien der Musiker, Ballerinas, Exilanten, Immigranten und Flüchtlinge. Das Genie von Bizet ist, dass er diese spanische Kultur - wie Frankreich Italien im 16. Jahrhundert oder England im 18. Jahrhundert - umarmte und dabei die Schönheit der verschiedenen ästhetischen Welten feierte. Es scheint mir, dass Bizet uns aus der Ferne erzählt: "Was mich angeht, habe ich absolut keine Bedenken gegen die Idee von künstlerischen Hybriden."

In deinen Stücken magst du künstlerische Hybriden sehr. Warum?
Ja. Ich mag die Dynamik künstlerischer Hybriden, den Prozess, durch den sich körperliche Praktiken oder ungleiche künstlerische oder kulturelle Elemente verbinden und ein drittes Element bilden. Und dieses Element wird nicht mehr nur aufgrund seiner Komponenten betrachtet.
Warum das? Das ist schwer zu beantworten. Es ist meine Neigung, meine Ethik. Ich habe lebhafte Kindheitserinnerungen, die mich als Erwachsener nach und nach zu der Erkenntnis brachten, dass diese mit einer Vielzahl von Werten verbunden sind, die möglicherweise eine Verpflichtung auslösen könnten.

Kannst du uns etwas über diese Kindheitserinnerungen erzählen? Haben sie eine Beziehung zu Carmen (S)?
Ja und nein.
Ich bin der Sohn eines spanischen politischen Flüchtlings, der in Arzens bei Carcassonne nach Frankreich geflohen ist.
Ich mag die zwei melodischen Silben dieses Namens, Carmen, den viele Spanierinnen haben.
Carmen war der Name meiner Großmutter, einer passionierten katalanischen Feministin, einer unvergleichlichen Geschichtenerzählerin und streitbaren Heldin meiner Kindheit.
Für meine Mutter, eine leidenschaftliche Tänzerin, war es ihre Lieblingsrolle. Wir haben Bilder von ihr in Carmen aufbewahrt. Ich besuchte halbprofessionelle Shows als ich 7 war. Sie war auch eine Rebellin, eine begeisterte Feministin.

Was hältst du von Nietzsches Satz "Diese Musik braucht einen intelligenten Zuhörer"?
Ich mag diese sonnige Musik, deren Entstehung Nietzsche in Carmen gefeiert hat. Die sinnliche Tiefe, der Humor, die Ausdruckskraft der Musik, ihre tragische Leichtigkeit. Carmens Partitur ist federnd und bunt, ein berauschendes Feuerwerk des Lebens, der Rhythmen. Diese Musik hat eine kindliche Qualität von freudiger Tiefe. Eine echte Herausforderung für eine choreografische Version.


©Créteil, March 2017; Übersetzung: Katharina Zettel

sa 13/10 José Montalvo: Carmen(s)

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