Verschmelzung aus Vergangenheit und Gegenwart

©LI Yi Jian

Es liegt ein breiter Weg zwischen der Yunnan Provinz in China und Wuppertal in Deutschland. Und doch war es die dort ansässige Pina Bausch, die Yang Liping dazu inspirierte, ihre erste zeitgenössische Performance zu kreieren. „Ich bin beeindruckt davon, wie sie versucht etwas über menschliche Ideen und Philosophien in ihren Werken zu vermitteln“, so Liping. Um diese Gedankentradition fortzusetzen und eine für unsere heutige Zeit relevante zeitgenössische Performance zu kreieren, blickte sie jedoch weit in die Geschichte zurück: „Ich habe in der Vergangenheit und in der Gegenwart nach Verbindungen zwischen Menschen und zwischen der eigenen Seele und der Welt gesucht.“

Was sie fand, war die populäre Volkserzählung über die Schlacht von Gaixia 202 v. Chr., eine der bedeutendsten Legenden in der chinesischen Geschichte. Sie ist Objekt vieler Nacherzählungen und Interpretationen, einschließlich des Films „Farewell my Concubine“. Die Saga handelt von dem allesentscheidenden Kampf zwischen den Chu- und den Han-Armeen, einem Hinterhalt, der den Lauf der chinesischen Geschichte dramatisch veränderte und von einer selbst den Tod überwindenden Liebe. „Auch, wenn die Geschichte bereits 2000 Jahre alt ist, hat sie nichts an Relevanz verloren. Was damals passierte, passiert auch in der heutigen Welt immer noch jeden Tag.“, ist Liping überzeugt. „Diese Kreation erzählt von großen menschlichen Emotionen, unabhängig von Nationalität, Zeit oder Ort – wie Krieg, Eifersucht, Betrug, Klassenunterschiede, Liebe“, meint sie weiter.
„Hoffentlich können die Menschen die Botschaft der Brutalität des Krieges und die Sinnlosigkeit von Machtkämpfen zwischen einzelnen Individuen erkennen, die in Folge zum Opfer von Tausenden von Leben führen.“ Obwohl Under Siege bereits Lipings fünfte große Produktion als Choreografin ist, ist es die erste bei der sie zeitgenössischen Tanz mit traditionellen chinesischen Kunstarten verbindet.

Sie selbst kommt aus dem Volkstanz. Geboren in Dali, in der Yunnan Provinz im Südwesten Chinas, waren ihre Eltern Bauern und gehörten zu der ethnischen Minderheit der Bai. Musik und Tanz waren Teil des täglichen Lebens. Ihre Großmutter war die beste Sängerin im Dorf, erzählt sie: „Ich kann mich noch gut erinnern, als ich sechs Jahre alt war, morgens aufwachte und schon die Stimme meiner Großmutter hörte. Mein Großvater war gestorben und sie sang den ganzen Tag lang über alle Details ihres gemeinsamen Lebens. Das war unser Leben. Meine Familie liebte es zu singen und zu tanzen.“ Mit 11 Jahren trat Liping einer regionalen Tanzgruppe in Xishuangbanna bei, wo man ihr Talent schnell erkannte. Die junge Tänzerin begann ein traditionelles Stück zu erarbeiten: „The Peacock“. Das Werk, in dem die Bewegungen eines Pfaus nachgeahmt werden, gilt als ein Wahrzeichen der Bai Kultur. In ihren frühen 20ern ergänzte sie die Performance um ihr eigenes unverwechselbares Bewegungsrepertoire, während sie bei dem Central Nationalities Song and Dance Ensemble in Beijing tanze. 1986 gewann sie mit ihrer Interpretation von „The Peacock“ einen nationalen Tanz-Wettbewerb – der erste Schritt in eine aufstrebende Solo Karriere, die ihr Bekanntheit in ganz China einbrachte und ihr den Beinamen „The Peacock Princess“ bescherte.

Als sie schließlich ihre Leidenschaft für Choreografie und Regie entdeckte, führte sie ihre erste Produktion zurück in ihre Kindheit. „Dynamic Yunnan“ basierte auf den Volkstänzen ihrer Heimat-Provinz, einer der ethnisch vielfältigsten in China. Ihre Inspiration zog sie aus Reisen durch die Region auf der Suche nach beinahe vergessenen Volksliedern und lokalen Tänzen.

©LI Yi Jian

In „Under Siege“ beschreitet sie ganz neue Wege und greift das erste Mal den zeitgenössischen Tanz in ihrer Kreation auf. In China wird zeitgenössischer Tanz häufig mit klassischem Ballett und Spitzentanz gleichgesetzt - Liping hingegen möchte etwas komplett Neues, ganzheitlich Chinesisches schaffen. Mit ein Grund, weshalb in „Under Siege“ Solisten der Peking-Oper, zeitgenössische TänzerInnen, Kung-Fu- und Tai-Chi-Kämpfer, Live-MusikerInnen und eine traditionell chinesische Papierschneidekünstlerin in einer groß angelegten Inszenierung eine Vielzahl traditioneller chinesischer Elemente verbinden. „Für mich ist es ein Experiment. Einfach nur die traditionellen chinesischen Elemente auf die Bühne zu bringen, wäre ein Abkupfern dessen, was schon andere vor mir gemacht haben. Also habe ich sie mit zeitgenössischem Tanz verschmolzen. Gleichzeitig glaube ich aber nicht, dass das chinesische Publikum für ausschließlich Abstraktes bereit ist. Es brauchte also auch traditionelle Elemente.“ Diese Experimentierfreude und die vorsichtige Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart spürt, sieht und hört man überall in Under Siege.

Am wichtigsten bleibt jedoch die Aussagekraft ihrer Werke. „In allen meinen Stücken geht es um das Mensch-Sein und das Leben,“ sagt Liping abschließend. „... Solche Dinge [wie in „Under Siege“, Anm.d.Red.] passieren auch heute. Liebe und Loyalität sind die ersten Opfer im Angesicht des Horrors von Kriegen – und das verletzt die ganze Welt.“

 

so 12/11 Yang Liping Contemporary Dance: Under Siege

 

Originaltext: Sarah Crompton

Übersetzung und gekürzte Fassung: Katharina Zettel, Andreas Prieling

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