Versteckt am Dachboden

Eine Reise zur Weltpremiere von Vlaemsch (chez moi) nach Brüssel

Das Bild passt perfekt für den persönlichen, aber auch gesellschaftspolitisch gern gesehenen Umgang mit unangenehmen und herausfordernden Themen: Ein mit jeder Menge Assoziationen auf- und beladener Raum bildet den Rahmen für Sidi Larbi Cherkaouis neue Produktion: Der große monochrome Dachboden mit vielen Schachteln (in denen womöglich Verdrängtes schlummert?) formt die Kulisse für ein außergewöhnliches Gesamtkunstwerk, einer hinreißenden Symbiose aus Live-Musik, Tanz, Schauspiel und Performance.

Auf einer Reise zur Uraufführung im Juni 2022 durften wir das Leading Team von Vlaemsch (chez moi) persönlich kennenlernen und mit den vier zeitgenössischen „flämischen Meistern“ in einen Austausch treten. Dabei konnten wir in die herausfordernde Gegenwart der relativ jungen Nation Belgien blicken – eines kleinen Transitlandes im Herzen von Europa. Eines in der Geschichte vielfach besetzen und eroberten Territoriums, heute gespalten in der Rivalität zwischen Flandern und Wallonien, scheinbar verbunden jedoch im Misstrauen gegen Fremdes.

Schlussapplaus für Vlaemsch im KVS in Brüssen © Andreas Prieling

Brücken bauen

In Vlaemsch (chez moi) reflektiert Sidi Larbi Cherkaoui – er wird von Freund:innen und Kolleg:innen liebevoll nur Larbi genannt – seine flämische Identität. Was bedeutet es aus Flandern zu kommen? In Antwerpen geboren und mit einem Nachnamen wie „Cherkaoui“ wird einem als Sohn eines marokkanischen Vaters und einer flämischen Mutter nicht so schnell das Etikett „flämisch“ verpasst - „obwohl ich es bin“, so Cherkaoui. Floris De Rycker, ihm obliegt die musikalische Leitung der Produktion, veranschaulicht die Problematik: „Larbi ist zu 50 % flämisch, viele sehen ihn jedoch zu 100 % arabisch“. Es ist eine Bandbreite an Identitäten, die das Flämische umfasst, gerade in einem Schmelztiegel wie Brüssel, in dem knapp 200 verschiedene Nationalitäten leben. Vlaemsch (chez moi) versucht in einer sich abgrenzenden Gesellschaft den Diskurs rund um eine flämische Identität, die Cherkaoui als eine fließende sieht, herrlich unaufgeregt und mit viel Humor zu führen, ohne dabei jedoch tragische und ernste Themen auszusparen.

Der Antwerpener Modedesigner Jan-Jan Van Essche zeichnet für das Kostümbild verantwortlich. In der Kindheit bildete sich für ihn ein Selbstverständnis als belgischer Bürger heraus: „Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der der Begriff „flämisch“ von der rechten Politik als Abgrenzung verwendet wurde. Damit wollte ich nichts zu tun haben.“ Den Diskurs über eine flämische Identität möchte Van Essche jedoch nicht dem rechten Lager überlassen. Er sieht in Cherkaouis neuer Kreation eine Möglichkeit, eine versöhnliche Brücke im eigenen Land, nach Wallonien, zu bauen: „Wenn wir die Meinung von Menschen schon nicht ändern können, weiß man doch nie, welche Denkanstöße man vielleicht dennoch gibt.“

Wir alle sind Flandern

Ein Name, der im Gegensatz zu Sidi Larbi Cherkaoui sofort ans Flämische denken lässt, ist Hans Op de Beeck. Der bildende Künstler zeichnet für die Ausstattung und das Bühnenbild verantwortlich. Er verrät uns im Gespräch, dass er sich erstmals im Reflexions- & Kreationsprozess rund um die Produktion mit der Frage nach seiner Herkunft und seiner Identität auseinandergesetzt hat. Er erinnert sich beispielsweise an sein Elternhaus mit dem „deprimierenden typisch flämischen Garten“, einem simplen, länglichen Stück Rasen, eingefasst von hohen grauen Betonwänden. Dieses Grau ist zum Aushängeschild des bildenden Künstlers geworden. Assoziationen an Pompeij, Stillstand oder dem Verhaftetsein in der Vergangenheit drängen in die Gedanken, wenn er seine Kunstwerke, wie auch das gesamte Bühnenbild, in ein monochromes Grau taucht. Damit schafft Op de Beeck den Sprung von der sehr persönlichen Kindheitserinnerung hin zu universell begreifbaren Kunstwerken. Vlaemsch (chez moi) verortet sich ebenso in diesem Kosmos: es werden einerseits typisch flämische Geschichten erzählt, die andererseits genauso gut für viele weitere Regionen stehen können und somit universell lesbar sind.

Hans Op de Beeck in seinem Brüsseler Atelier © Andreas Prieling

Der eigene Dachboden

Vlaemsch – übrigens korrekt [Vlaams] ausgesprochen – regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an: Wie denken wir über Fremde? Welche Position nehmen wir ein, wenn wir über Fremdes sprechen? Warum definieren wir unsere Identität häufig in einer abgrenzenden Haltung jemand anderem gegenüber? Ist man bereit aus der Vergangenheit zu lernen? Am Ende unserer Reise kommen wir zum Schluss, dass es sich für jeden einzelnen von uns lohnen würde, sich den versteckten Schachteln im eigenen symbolischen Dachboden gelegentlich anzunehmen. Denn, so Cherkaoui: „Wir vergessen viel von unserer Geschichte und stellen uns manchen Teilen von ihr nicht. Ich halte es für notwendig, hin und wieder in die Vergangenheit zurückzukehren, nach seinen Wurzeln zu suchen und sie dort, wo notwendig, zu entwirren.“

 

Zur Vorstellung am fr 07/10:
Vlaemsch (chez moi)

Sidi Larbi Cherkaoui im Ö1-Frühjournal (mi 05/10):
Ö1

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