Tanzkritik

Tänzerische Nuancen zwischen Vollkommenheit und Sünde

Wann wird ein Wunsch zur Habgier? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstwirksamkeit und Hochmut? Ist die Auseinandersetzung mit den sieben Todsünden überhaupt noch zeitgemäß?: „The Seven Sins“ von Gauthier Dance geht diesen Fragen nach.

Wann wird ein Wunsch zur Habgier? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstwirksamkeit und Hochmut? Ist die Auseinandersetzung mit den sieben Todsünden überhaupt noch zeitgemäß?

 Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich schon vor Stückbeginn, als der Initiator von „The Seven Sins“,  Eric Gauthier, die Bühne betritt. Charismatisch stellt er seinen persönlichen Werdegang und die Erfolgsgeschichte seiner Stuttgarter Company Gauthier Dance vor – so wie er es immer macht, wenn er das erste Mal in einer neuen Stadt ist. Der Choreograf und Tänzer erzählt von seinem Wunsch, sieben Superstars des zeitgenössischen Tanzes für sein Thema zu begeistern. Während dieser unterhaltsamen Ansprache drängt sich die Frage auf: Ist das schon Hochmut oder eine gesunde Portion Selbstbewusstsein? Faktum ist, dass alle gewünschten Choreograf:innen an Bord sind und als Ergebnis einen kurzweiligen Abend bestehend aus sieben Tanzstücken liefern. Sidi Larbi Cherkaoui gibt den Auftakt von „The Seven Sins“. Neun Tänzer:innen der Company Gauthier Dance bewegen sich zackig zu den Klängen von Münzen und bekleiden sich mit Handschuhen und Hauben aus Geld, bis sie in ihrer Habgier sanft übereinander herfallen. Hofesh Shechters Tänzer:innen würden es ihnen gleichtun, wenn sie könnten. In Weiß gekleidet verkörpern sie jedoch Reinheit und unterdrücken ihre Lust mit langsam geführten Bewegungen und weit aufgerissenen Mündern: zwischen Selbstkontrolle und sinnlichen Bewegungen, vom Wollen und nicht Sollen. Zwischen den einzelnen Nummern flüstert eine Stimme über den Lautsprecher Worte in unser Ohr. Sie leitet jedes Stück mit ihrem Titel ein: „Hochmut" (Choreografie: Marcos Morau): ein Frauenquintett, exakte Bewegungen und Selbstbestimmtheit pur. „Völlerei" (Choreografie: Marco Goecke): ein oberkörperfreier Solist im Drogenrausch mit unkontrollierten Extremitäten. „Zorn" (Choreografie: Sasha Waltz): zwei schreiende, sich immer wieder anspringende Tänzer:innen im Stroboskoplicht. „Neid" (Choreografie: Sharon Eyal): drei Balletttänzerinnen und argwöhnische Blicke. 

In der Einführung von Eric Gauthier erfuhr das Publikum, dass die unbeliebteste Todsünde unter den Choreograf:innen die Trägheit war. Wie kann man diese tanzen? Das zeigt die kanadische Choreografin Aszure Barton. Ein Duo spielt in Jogginghosen mit der Schwerkraft. Die beiden Tänzer geben ihr Gewicht am Boden ab und verharren kurz in akrobatischen Positionen, bevor sie sich selbst am Kragen packen, um sich wieder hochzuziehen. 

Was zu Beginn nach Entspannung aussieht, wird mit der Zeit zum mühsamen Kraftakt, einzelne Klaviertöne verstärken das Gefühl. In den sieben Tanzstücken verdeutlichen die Choreograf:innen, dass hinter jeder Todsünde ein Wunsch, ein Begehren oder eine Emotion steckt. Wann wird die Bewunderung zum Neid und der Genuss zur Völlerei? Wer eine klare Unterteilung in Gut und Böse erwartet, wird enttäuscht. Denn der Abend zeigt: Zwischen Schwarz und Weiß gibt es viele Schattierungen. Für diese feinen Nuancen finden die Tänzer:innen einen Ausdruck und laden die Zuseher:innen ein, sich mit ihren eigenen Wertevorstellungen auseinanderzusetzen. 

Kritik von Festspielhaus-Reporterin Veronika Wöhri