Tanzkritik

Die Kunst darf alles, das Publikum darf buhen

Wer waren die Buh-Rufer:innen in Sasha Waltz‘ Stück Beethoven 7? Alte weiße Männer? Abo-Geherinnen? Warum sie Recht hatten und der Abend trotzdem sehenswert war.

Tatsächlich sind Buh-Rufe im Festspielhaus St. Pölten äußerst selten, vor allem bei den weit über die Grenzen hinaus bekannten und anerkannten Tanzproduktionen, die hier gezeigt werden. Aber Sasha Waltz, die 60-jährige deutsche Grande Dame der internationalen Choreograph:innen, hatte es in der ersten Hälfte des Abends auch drauf angelegt, anzuecken. Live gemischte Musik des chilenischen Komponisten Diego Noguera prallte auf bombastische Licht- und Nebeleffekte und auf erratische Tänzer:innen, die wohl in höchster Qualität performten, soweit man das sehen konnte. Wobei, Musik ist der falsche Begriff. Stellen Sie sich 1000 Symphonien übereinandergelegt vor – der dabei entstehende Klangbrei wurde mit Kanonenschlägen und Maschinengewehrgarben unterfüttert. Dementsprechend wurde auf der Bühne gelitten und langsam gestorben. Punkt.

Dabei war Waltz‘ Grundidee eine nachvollziehbare: Auch Beethoven hatte seiner siebten Symphonie eine „Schlachtenmusik“ vorangestellt, die zu ihrer Zeit ungemein populär war und heute komplett vergessen ist – womöglich nicht grundlos. Und so war nach der Pause alles anders: Das Tonkünstlerorchester NÖ unter Titus Engel spielte Beethovens Siebte in gewohnter Brillanz, und die 13 Tänzer:innen der Sasha Waltz & Guests Company tanzten zu allen vier Sätzen so, als wenn Beethoven seine Musik genau für diese Choreographie geschrieben hätte. Auch wenn manche Szenen im Aufbau an klassische Menuetts erinnerten, gelingt es Waltz, Beethovens manchmal überbordende Momente sanft zu brechen und jedes Pathos zu vermeiden. Im Gegenteil, ihre Arbeit lässt Raum für den einzelnen Menschen und seine Emotionen. Dafür hört man sogar im stummen Pas de deux zwischen den Sätzen noch die Musik nachklingen. Für Aufführungen wie diese wurde wohl das Wort „kongenial“ erfunden, auch wenn den Komponisten und die Choreografin 200 Jahre trennen.

Bühnenbild? Licht? Praktisch nicht vorhanden. Kostüme: Reduzierte Röcke und Hosen, die die Grenzen der Geschlechter mehr verwischen als sichtbar machen. Nichts lenkt da ab vom Gesehenen und Gehörten. Und so gab es am Ende Standing Ovations für die Tänzer:innen, die Musiker:innen, den Dirigenten und auch für die anwesende Sasha Waltz. War beim Applaus das erste Stück mitgemeint? Bei einem großen Teil des Publikums sehr wohl, andere dürften über die Eingängigkeit des zweiten Teils erleichtert gewesen sein. Alte weiße Männer? Abo-Geherinnen? Der Fanclub des Tonkünstlerorchesters? Das wäre zu einfach und pauschal. Tatsache ist, dass das Schlachtengetümmel des ersten Teils in seiner Lautstärke und Bilderflut nicht alle Besucher:innen (im positiven Sinne) mitgenommen hat. Andererseits: Ist das nicht die Aufgabe von Kunst? Immer nur romantisch glotzen, um es mit Brecht zu sagen, bringt uns ja auch nicht weiter.

Sie interessieren sich für zeitgenössischen Tanz und haben Lust am Schreiben? Kontaktieren Sie uns und werden Sie Festspielhaus-Reporter:in: kulturvermittlung[at]festspielhaus.at