Tanzkritik

Tonband der Erinnerungen rückwärts gespielt

Die New Yorker Company „A.I.M.” by Kyle Abraham lädt das Publikum mit Cassette Vol. 1 auf eine tänzerische Nostalgiereise in die goldene Ära der Popkultur ein.

Der graue Bühnenhintergrund könnte sowohl einen tristen Betonzaun als auch ein riesiges abstraktes Bild mit grafischen Elementen darstellen. In der rechten Ecke stehen einige Schaufensterpuppen, daneben hängen Fernseher verschiedener Größen: Einige zeigen nur „Schnee“, auf anderen wechseln sich kurze Ausschnitte aus Sportwettkämpfen, Nachrichten und Werbung ab. 

Der US-amerikanische Choreograf Kyle Abraham nimmt uns mit auf eine nostalgische Reise in die 80er-Jahre – in die Blütezeit der Konsumkultur, der glamourösen Pop-Ohrwürmer und der auffälligen Frisuren. Zu einem 80er-Jahre-Pop-Soundtrack bewegen sich elf Tänzer:innen in übergroßen Kunstfaser-Trainingsanzügen mit knallig-bunten Farbstreifen und Big-Hair-Perücken über die Bühne. Die Kostüme erinnern an die Unisex-Hip-Hop Mode der Zeit und verwandeln die Tänzer:innen in geschlechtsneutrale Figuren, wodurch die von A.I.M. getanzte Geschichte universell und für jede:n Zuschauer:in erfahrbar wird.   

Die fließenden, energiegeladenen Tanzschritte wirken improvisiert, als ob die Tänzer:innen ihre Bewegungen spontan entwickeln – ein Stil, der von der Künstlerin und Choreografin Trisha Brown inspiriert ist. Nichts wirkt einstudiert oder starr. Sie beherrschen jeden Zentimeter der Bühne und schaffen ein harmonisches Zusammenspiel von Tanz, Raum und Licht. Bunte Neonlichter tauchen die Szene in wechselnde Farben und erzeugen so die Atmosphäre eines Discoclubs. 

Der Wendepunkt der Aufführung kommt mit dem Song „Dancing with Myself“. Ein einzelner Tänzer bleibt auf der in Dunkelheit getauchten Bühne, beleuchtet nur von einem Scheinwerfer, und tanzt langsam, fast wie in Slow-Motion, allein vor einem Ventilator. Dieser Moment wirkt wie eine humorvolle Hommage an alte Musikvideos, verändert jedoch die Stimmung des Stücks grundlegend. Nach und nach kommen die anderen Tänzer:innen zurück auf die Bühne, doch die Musik verstummt. Sie tanzen weiter – allein begleitet vom Geräusch eines ablaufenden Tonbands auf einer halbdunklen Bühne. So wie unsere Erinnerungen mit der Zeit verblassen und verstummen. 

Als die Musik zurückkehrt, entsteht eine wachsende Dissonanz: Die Bewegungen der Tänzer:innen stimmen nicht mehr mit der Musik überein. Während der Sound energisch bleibt, werden ihre Bewegungen langsamer und zurückhaltender. Das erzeugt eine spürbare Irritation. Man möchte am liebsten aufspringen und selbst tanzen, um die Unstimmigkeit aufzulösen. Der Tanzabend neigt sich dem Ende zu. Vom Schnürboden fallen bunte Kugeln und Plüschtiere herab. Es folgt die Verbeugung, der Applaus und das Stück ist aus.

Doch eine Figur in einem farbenfrohen Outfit bleibt auf der Bühne, während ein schwarz gekleideter Bühnenarbeiter bunte Kugeln zusammenkehrt – wie ein letzter leuchtender Moment der Jugenderinnerungen, inmitten des grauen Alltags. So, wie das Wiederfinden einer alten Cassette Vol. 1 mit Lieblingsliedern unsere Erinnerungen für kurze Zeit wieder aufleuchten lässt.

Kyle Abrahams neues Werk ist mehr Reflexion über eine strahlende Vergangenheit als eine scharfe gesellschaftliche Aussage. Die Widersprüche der 80er Jahre – einer Zeit, in der die Popkultur blühte und Freiheit sowie Hoffnung aufkamen, während gleichzeitig Kriege wüteten und aggressive Politik betrieben wurde, und AIDS sowie Drogen sich ausbreiteten – bleiben im Hintergrund. Sie spiegeln sich zwar im Bühnenbild wider, doch die nostalgischen Rhythmen und die sanfte Stimmung des Stücks lassen sie verblassen. Für anderthalb Stunden bietet das Tanzstück eine Flucht aus der düsteren Gegenwart und entführt uns in eine Welt voller schöner Erinnerungen, ohne jedoch die Unvollkommenheiten der Vergangenheit wirklich zu erfassen.

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