Traumtänzer:innen
Choreografie eines inneren Konflikts: Die Hofesh Shechter Company begibt sich im fulminanten Tanzstück „Theatre of Dreams“ in TraumanalyseVorsichtig, beinahe zaghaft, bewegt sich der Tänzer mit dem Rücken zum Publikum in den hinteren Bühnenbereich. Ein Blick zurück, dann verschwindet er in einer gucklochartigen Öffnung hinter den Vorhang. Er betritt eine andere Welt: die Welt der Träume.
Der aus Israel stammende und in London lebende Choreograf Hofesh Shechter entführt in „Theatre of Dreams“ das Publikum in einen expressiven, kraftvollen Tanzreigen. Zwischen sich ständig bewegenden Vorhangbahnen entfaltet sich eine hypnotische Choreografie. Der Vorhang gewährt Einblicke – oder verweigert sie – und bestimmt so, was das Publikum zu sehen bekommt: ein selektives Bild, wie durch das Objektiv einer Kamera.
Traumtänzer:innen
Die Herkunft Shechters und die traumatischen Ereignisse des 7. Oktobers 2023 gestalten die Atmosphäre des Stücks mit. Ebenso wesentlich für den Schaffensprozess sind die 13 Tänzer:innen seines diversen Ensembles, die aktiv am kreativen Prozess jeder seiner Produktionen mitwirken. Für Shechter sind die einzelnen Sequenzen wegen ihrer starken Bildsprache „ähnlich wie ein Traum“. Eine gedankliche Verknüpfung zu Sigmund Freud, dem Vater der Traumanalyse, bietet sich an.
Die Augen werden gewischt, dann wird der Blick klarer, Formationen lösen sich, Scheingefechte werden geführt. Capoeira-Elemente, Kreisformationen und impulsive Pirouetten prägen das körperliche Geschehen. Tänzer:innen wiegen sich sanft im Rhythmus – als würde die Musik ihren Herzschlag widerspiegeln. Ein innerer Kampf wird durch äußere Bewegung sichtbar: zuckend, dann fließend synchron. Arme oszillieren im Raum und verkörpern Emotionen. Tänzer:innen sitzen im Kreis – eine archaisch wirkende Szene entsteht. Sie sind keine Individuen mit definierten Persönlichkeiten, sondern Verkörperungen unterschiedlicher Welten.
Der Klang der Körper
Der Soundtrack ist ein kaleidoskopischer Mix: Rave, Bossa Nova, Afrobeat, klassisches Klavier, verzerrte Elektronik – ein Grollen wie Donner. Dazu die Stimme einer Sängerin: „Welcome to your theatre of dreams“ und ein Song von Molly Drake aus dem Off – eine melancholische Reminiszenz an das Gestern. Shechter, der Schlagzeug studierte, komponiert die Musik für seine Tanzstücke immer selbst. Bei „Theatre of Dreams“ schafft das kongeniale Musikertrio (Navarre, Janiak, Paton) in signalroten Outfits daraus eine expressive Klanglandschaft zum kraftvollen Bewegungsbild.
Zwischen Traum und Realität
Farblich entfaltet sich ein expressives Spektrum: grelles Blutrot, sanftes Ocker, kühles Blaugrau – die Farben versetzen das Publikum in wechselvolle emotionale Zustände. Licht und Dunkelheit lösen einander unaufhörlich ab. In rostroten Tönen wirken diese Übergänge wie schlecht belichtete Dias einer vergessenen Geschichte.
Einer der Protagonisten schwankt zwischen Einsamkeit und Gruppenzugehörigkeit. Immer wieder wird er aus der Distanz in die Gemeinschaft gezogen – oder stößt sich von ihr ab. Der Vorhang bleibt ein wiederkehrendes Motiv: Mal gibt er weite Blicke frei, mal verschließt er sich. Dahinter tobt ein Geschehen, das zwischen Ruhe und Ekstase, Traum und Realität wandert.
Zwischen Scham und Selbstbehauptung
Hofesh Shechter präsentiert den Menschen in seiner Nacktheit tanzend, aber nicht entblößt. Zwei Tänzerinnen zeigen sich – nahezu divenhaft – mit einem direkten, kraftvollen Blick ins Publikum. Der Sound lässt sie vibrieren. Ein Akteur zeigt sich schamhaft, zieht sich zurück, gebückt und flüchtend. Andere entkleiden sich im Laufe der Bewegung. Ein kurzer Moment der Grenzüberschreitung: Jemand pinkelt an die Wand. Die dazugehörigen Leuchteffekte erinnern oftmals an ruckelnde Stummfilmaufnahmen. Alles ist Teil eines verschmelzenden Ganzen, von illuminierten Farbflüssen durchzogen.
Etwa im Mittelteil des Treibens kommt auch Bewegung ins Publikum: Tänzer:innen laden von der Bühne zum Mittanzen ein, durchqueren den Zuschauerraum auf der Suche nach einem Tanzpartner oder einer Tanzpartnerin, reißen damit Barrieren nieder. Die vierte Wand wird geöffnet. Schein- und Alltagswelt werden eins.
Der Abend endet mit Standing Ovations für die fulminante Körperarbeit des Ensembles. Ein Tanzstück, das im Hier und Jetzt verankert ist – und gleichzeitig Türen zu einer geteilten Traumwelt öffnet. Eine Choreografie, die unser Unterbewusstsein berührt und bewusst macht, wie kraftvoll gelebte Gemeinschaft sein kann.